Urteil: Produkthaftung wegen Verstoß gegen EG-Maschinenrichtlinie
RA Prof. Dr. Thomas Klindt, Partner der Kanzlei Noerr LLP in München.
Wie gefährlich ein etwaiges Abweichen von rechtlich vorgeschriebenen Sicherheitsstandards werden kann, zeigt ein neues Urteil des Landgerichts Stuttgart (vom 10. April 2012) sehr deutlich. Die juristischen Vorgaben des europäischen Produktsicherheitsrechts lassen sich nun einmal nicht folgenlos ignorieren. Die EG-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG verlangt eine vollständige Einhaltung auch dann, wenn der Kunde in der Anschaffung auf Sicherheitsfeatures zum Teil verzichten möchte oder ein industrieller Wettbewerber Vorteile hat, weil er sich teilweise eigenmächtig davon „freistellt“, ohne dass ihm Marktüberwachungsbehörden bisher auf die Schliche gekommen sind...
In einem echten Haftungsfall nutzen diese durchaus wohlbekannten Ausreden jedenfalls nichts. Denn dann wird das Industrieunternehmen allein an der Einhaltung sämtlicher Rechtsvorgaben des europäischen Technikrechts gemessen. Neben der EG-Maschinenrichtlinie begegnen einem daher auch Fälle gleichartiger Argumentation bei Verstoß gegen die Druckgeräte-Richtlinie 97/23/EG, gegen die ATEX-Richtlinie 94/9/EG, die EMV-Richtlinie 2004/108/EG oder aufgrund technischer Innovationen im Maschinen- und Anlagenbau zunehmend auch der R&TTE-Richtlinie 1999/5/EG. Dass schließlich derartige Verstöße im vertragsrechtlichen Verhältnis zum Kunden schwierige Mängelverhandlungen auslösen und zu enormen Forderungen führen können, soll nur nebenbei erwähnt werden.
Grundkonstellation
Das Landgericht Stuttgart hatte über folgenden Fall zu entscheiden: Eine 2006 hergestellte und im selben Jahr ausgelieferte Maschine (mit EG-Konformitätserklärung) führte zu einem Arbeitsunfall während des bestimmungsgemäßen Reinigungsvorgangs. Der Geschädigte wollte dabei reflexartig einen auf das Mitnahmeband gefallenen Lappen wieder greifen; dabei wurde seine Hand in die Walze eingezogen und schwer verletzt. Das Gericht hat einen Sachverständigen eingeschaltet, der zum einen nachweisen konnte, dass bereits eine Risikobeurteilung (früher: Gefahrenanalyse) nach Anhang I der EG-Maschinenrichtlinie schlicht nicht vorhanden ist. Auch ein konstruktives Sicherheitskonzept im technischen Design lag – vielleicht deshalb? – nicht vor. Zudem fehle konstruktiv eine fehlersichere Überwachung/Absicherung der Bandgeschwindigkeit, was gegen die in der Konformitätserklärung als eingehalten behauptete Norm DIN EN 1010-1:2011-06 „Sicherheit von Maschinen – Sicherheitsanforderungen an Konstruktion und Bau von Druck- und Papierverarbeitungsmaschinen – Teil 1: Gemeinsame Anforderungen; Deutsche Fassung EN 1010-1:2004+A1:2010“ verstieße. Zudem sei die Ausgestaltung der Funktion des Türschalters, der bei offener Tür einen Betrieb der Maschine lediglich im Tipp-Betrieb gewährleisten soll, im Zusammenhang mit der unzureichenden Bandgeschwindigkeitsüberwachung ein weiterer Verstoß gegen Kern-Sicherheitsanforderungen. Schließlich habe die Maschine den einschlägigen Sicherheitsvorschriften widersprochen, weil eigentlich eine Überwachung sicherheitsrelevanter Geschwindigkeiten außerhalb der Standard-SPS in Sicherheitsschaltgeräten, die in den Notkreis eingebunden seien und einen sofortigen Bandstopp veranlassen könnten, erforderlich sei. Bei der fraglichen Maschine sei dies aber nicht der Fall gewesen. Insgesamt moniert der Sachverständige also gleich diverse Abweichungen vom EG-Maschinenrecht, die – das Gericht schließt sich ihm an – unfallursächlich waren.
Produkthaftungsrechtliche Feststellungen des Gerichts
Nach diesem für das Gericht in technischer Hinsicht klaren Sachverhalt hat es folgende Feststellungen getroffen, die in dieser Eindeutigkeit für den Maschinen- und Anlagenbau an Klarheit kaum Raum für Interpretationen übrig lassen:
So führt das Gericht unter anderem aus:
„Hersteller von Maschinen mit großem Gefährdungspotenzial sind verpflichtet, durch Konstruktion und Benutzerinformation alle zumutbaren und erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Gefahren abzuwenden, die sich aus der Benutzung der Maschine ergeben können. Für die Produktionssicherheit ist neben den Erwartungen der Verbraucher der jeweilige Kenntnisstand von Wissenschaft und Technik maßgeblich.“
Das Urteil des Landgerichts steht hier in einer langen Tradition von Entscheidungen, die immer wieder betont haben, dass es bei der Vermeidung von Produkthaftung um die Einhaltung des Standes von Wissenschaft und Technik geht. Dies hat zuletzt der Bundesgerichtshof noch 2009 mit seinem berühmten Airbag-Urteil (wegen Airbag-Fehlauslösungen aufgrund irriger Sensorik-Interpretationen einer vermeintlichen Unfallsituation durch die embedded software) entschieden, in dem es sehr deutliche Worte zum einzuhaltenden Stand von Wissenschaft und Technik fand. Die in der Industrie von dort beschäftigten Ingenieuren zuweilen zu hörende Aussage, es komme also lediglich auf den Stand der Technik an, ist produkthaftungsrechtlich nicht richtig.
Vor allem aber kommt es auf diesen Streit in all den Fällen gar nicht mehr an, in denen eine gesetzliche Vorschrift wie die EG-Maschinenrichtlinie schlicht nicht eingehalten ist. Denn wenn zwingende Sicherheitsvorschriften verletzt werden, wird kein Richter davon zu überzeugen sein, dass hier gleichwohl der Stand von Wissenschaft und Technik oder selbst auch nur der Stand der Technik eingehalten ist – es fehlt ja schon an der Einhaltung des Standes der gültigen Gesetzgebung. Deshalb ist ein Verstoß gegen die EG-Maschinenrichtlinie ein so gefährliches Spiel: Es drohen ja nicht nur die ohnehin kaufmännisch einschneidenden Interventionen der Marktüberwachungsbehörden (zum Beispiel Vertriebsverbote, Rückrufanordnungen nach ProdSG). Es droht eben im Schadensfall auch eine einfache Nachweiskette von dem Verstoß gegen die Maschinenrichtlinie hin zum haftungsbegründenden Fehler im Sinne des Produkthaftungsrechts.
Ob ein solcher technischer Verstoß gegen die EG-Maschinenrichtlinie vorliegt, lässt sich das Gericht dabei zumeist von technischen Sachverständigen nachweisen (wie auch in diesem Fall). Deshalb konnte das Gericht auch folgenden deutlichen Leitsatz formulieren:
„Fehlen bei einer Maschine die aus der Maschinenrichtlinie (98/37/EG, neu 2006/42/EG) in das Produktsicherheitsgesetz übernommenen Anforderungen, so ist die Maschine fehlerhaft im Sinne des Produkthaftungsgesetzes.“
Interessant ist noch folgender Hinweis: Da der Unfall an der Maschine ein Arbeitsunfall im arbeitsschutzrechtlichen Sinne war, hatte die zuständige Berufsgenossenschaft die Unfall- und Rehabilitationskosten sozialversicherungsrechtlich zu übernehmen. Im Ausgleich dazu gehen alle produkthaftungsrechtlichen Ansprüche (bis auf individuelles Schmerzensgeld) des geschädigten Mitarbeiters auf die Berufsgenossenschaft (BG) über. Die BG hat dann das Recht, die Produkthaftungsansprüche als eigene Ansprüche gegenüber dem industriellen Hersteller durchzusetzen.
Diese Konstellation des so genannten berufsgenossenschaftlichen Regresses gibt es in der Realität übrigens oft und nach Wahrnehmung des Autors dieses Beitrags prozessual auch zunehmend. Delikat daran ist folgender Aspekt: Der industrielle Maschinenhersteller sieht sich jetzt einem Produkthaftungsanspruch ausgesetzt, der nicht mehr von einem „einfachen Geschädigten“, sondern von einer BG geltend gemacht wird. Diese ist in Fragen technikrechtlicher Sicherheitskonzeptionen aller CE-Richtlinien besonders fachkundig, erfahren, vor allem vernetzt und damit in argumentativer Hinsicht mit dem verklagten Industrieunternehmen sehr schnell auf Augenhöhe. Diese gerichtlichen Prozesse gilt es also von vorneherein in höchstem Maß ernst zu nehmen, auch in der anwaltlichen Verteidigung: Denn wenn (wie hier) gerichtlich im Namen des Volkes festgestellt wird, dass eine Maschine bereits konstruktiv – also in der gesamten Serienauslieferung – einen schwerwiegenden Sicherheitsmangel aufweist, gehen die Konsequenzen des Falls schnell über den einzelnen, gegebenenfalls versicherungsseitig abgedeckten Haftungsunfall hinaus. Es stehen dann sofort Fragen einer notwendigen Nachrüstungs- und Rückrufaktion im Raum, für die sich die versicherungsrechtliche Deckungsseite möglicherweise vollständig anders darstellt als „nur“ im einzelnen Haftungsfall.